18. Dezember 2020

Die „Corona-Krise“: Gedanken zum persönlichen Krisen-Empfinden Die „Corona-Krise“: Gedanken zum persönlichen Krisen-Empfinden

Wir aus TP7 und 5, das heißt, Stephan, Nina und Milena, haben uns aus diesem Homeoffice heraus die Frage gestellt, was die unter dem Namen „Corona-Krise“ bekannte Pandemie für uns bedeutet.

Ein Text von Stephan Bethe, Nina Hiebel und Milena Rabe aus TP 5 und TP 7

Seit fast einem Jahr befinden wir – und wir bedeutet in diesem Fall wirklich jede*r weltweit – uns mit der Corona-Pandemie in einer außergewöhnlichen Situation. Für die einen bedeutet die Corona-Pandemie im schlimmsten Fall, mit dem Verlust von Angehörigen, der eigenen Gesundheit und/oder des Arbeitsplatzes fertig werden zu müssen. Für die anderen bedeutet sie in der ersten Linie lange Einkaufsschlangen am Supermarkt, zerknautschte Masken in der Jackentasche und die Unsicherheit, die Einladung zum Geburtstagskuchen im kleinen Kreis bei der 90-jährigen Oma anzunehmen – oder lieber doch nicht? Für uns Projektmitarbeitende sind Homeoffice und Video-Konferenzen (fast) schon normal geworden. Ein Ende der Corona-Pandemie zeichnet sich zwar langsam mit der angekündigten Anwendung von Impfstoffen ab – doch wann und ob es wieder zu einem „Davor“ zurückgeht, bleibt unklar.

Wir aus TP7 und 5, das heißt, Stephan, Nina und Milena, haben uns aus diesem Homeoffice heraus die Frage gestellt, was die unter dem Namen „Corona-Krise“ bekannte Pandemie für uns bedeutet. Auch wenn man sich beruflich mit dem Thema Resilienz auseinandersetzt, muss man dennoch immer wieder innehalten und sich selbst reflektieren: Moment mal, was hilft eigentlich mir in kritischen Situationen? Was überhaupt ist eine Krise für mich? Wieso habe ich da noch nicht drüber nachgedacht. Kann die Corona-Pandemie auch für mich eine Krise sein, wenn sie mich persönlich nicht so sehr berührt? Wenn sie aber das Leben vieler Menschen weltweit stark beeinflusst, verändert oder gar beendet? Gibt es einen Unterschied zwischen persönlicher und gesellschaftlicher Krise und wenn ja, wo verschwimmen die Grenzen? Wenn ich Teil der Gesellschaft bin, muss ich doch auch als Individuum die Krise spüren, oder? Und weitergedacht: Was hilft mir, mit dieser Krise oder abgeschwächt, ihren Herausforderungen umzugehen?

Um uns einer Klärung anzunähern, haben wir uns folgende Fragen gestellt:

I. Ist die Corona-Pandemie eine Krise für mich? Wenn ja, wieso? Wenn nein, warum nicht?

II. Was hilft mir im Umgang mit Herausforderungen im Zuge der Corona-Pandemie?

 

Stephan Bethe (TP7):

„In den letzten, inzwischen zehn Monaten, habe ich häufiger Streitigkeiten, Ängste, Sorgen und Unsicherheiten erlebt, Situationen, die ich als ,krisenhaft´ bezeichnen würde. Aber macht das die Corona-Pandemie zu einer ,ausgewachsenen´ Krise für mich persönlich? Der Krisenbegriff ist unter anderem mit Bruch, Katastrophe, Fall ins Bodenlose und Verzweiflung assoziiert. Wie viele krisenhafte Situationen machen eine Krise, führen zu einer Katastrophe, zu einem Fall ins Bodenlose? Vielleicht lässt sich das nicht so einfach beantworten, aber manchmal, wenn ich mich gestritten, Angst um meine Eltern, oder Sehnsucht nach meinen Freund*innen habe, dann fühlt es sich an als fiele ich. Dieses Fallen erinnert dann zwar an die Krise, meine Lebenssituation nimmt dem Fallen aber die Schärfe, gibt ihm einen Boden, macht die Krise endlich und lässt mich nur erahnen, wie es anderen Menschen in diesen Zeiten gehen muss.

Das Wichtigste für mich war, mir bewusst zu machen, dass trotz der mich auffangenden Lebenssituation eben nicht alles ist wie immer. Dass Streits, Unsicherheiten und Beklemmungsgefühle auch damit etwas zu tun haben, dass die Zahl der Menschen, mit denen ich mich regelmäßig treffe, klein ist, dass ich nicht ins Kino gehen kann, mich nicht ohne trennenden Bildschirm mit Menschen austauschen kann, die ich nicht die ganze Zeit um mich habe. Das klar zu haben ist eine große Erleichterung, um nicht zu denken, es läge ausschließlich an mir oder den Personen in meiner Umgebung, dass ich mich fühle, wie ich mich fühle.

Und sonst natürlich: Viel Wasser trinken, früh ins Bett gehen, spazieren und mehrfach täglich sehr laut und lange Lachen.“

 

Nina Hiebel (TP5):

„Es fällt mir schwer, diese Frage mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten. Im Vergleich zu vielen anderen Personen in unserer Gesellschaft hat mich die Corona-Pandemie nur gering tangiert. Weder meine eigene Existenz oder Gesundheit noch die meiner Angehörigen waren glücklicherweise bisher in irgendeiner Form gefährdet. Dafür bin ich sehr dankbar. Dennoch fühle ich mich durch die Einschränkungen der Corona-Pandemie stellenweise belastet. Mein privater und beruflicher Alltag haben sich komplett verändert. Mein Arbeitspensum hat sich deutlich erhöht, gleichzeitig finde ich derzeit weniger Ausgleich. Vereinssport, Freund*innen treffen, Familienbesuche und vieles mehr, was mir hilft, abzuschalten und den Kopf freizubekommen, ist derzeit nicht bis sehr eingeschränkt möglich. Manchmal fühle ich mich isoliert oder bemerke bei Zusammenkünften, dass mir eine frühere Unbeschwertheit fehlt. Aktuell macht sich das bei dem innerfamiliären Umgang mit Weihnachten bemerkbar.

Im Großen und Ganzen versuche ich, mich nicht unnötig verrückt zu machen und mich auf all die Dinge zu konzentrieren, die aktuell nicht möglich sind. Ich akzeptiere die Situation so wie sie jetzt ist. Was mir dabei hilft ist Folgendes: Ich starte und beende den Tag mit kleineren Entspannungs-, Achtsamkeitsübungen oder Yoga. Ich kompensiere alle sportiven Hobbies (Vereinssport, Klettern) mit Spaziergängen, Wanderausflügen oder Joggen. Mir macht es auch richtig Spaß, die Umgebung zu erkunden. Mein Ziel ist es, jeden Tag etwas draußen an der frischen Luft und/oder in der Natur zu unternehmen. Dies erdet mich ungemein. Abends habe ich Zeit für kleinere kreative Tätigkeiten wie malen oder stricken. Ich stehe im engen telefonischen Kontakt zu meiner Familie und versuche zumindest einmal in der Woche unter Einhaltung der Regularien, einen Freund/eine Freundin zu treffen.“

 

Milena Rabe (TP5):

„Für mich persönlich ist die Corona-Pandemie zum Glück keine Krise. Im Gegensatz zu vielen Menschen weltweit, deren Existenz durch die Krankheit selbst oder ihre Konsequenzen, wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, bedroht ist, befinde ich mich in der privilegierten Situation, die Pandemie mehr oder weniger von außen betrachten zu können. Mein Umfeld und ich sind nicht erkrankt, mein Arbeitsplatz ist sicher, eine Krise im Sinne von einer mich persönlich tief erschütternden Situation kann ich glücklicherweise also nicht feststellen. Aber natürlich bin auch ich beeinflusst wie so viele; der soziale Kontakt fehlt mir, das bedenkenlose Zusammenkommen mit Freund*innen oder Zerstreuung durch Ausflüge oder Veranstaltungen.

Den Anforderungen, die die Corona-Pandemie an mich stellt, versuche ich möglichst chancenorientiert zu begegnen: Ich kann nicht so viele Leute sehen? Dann nutze ich die Zeit und widme mich wieder mehr dem Lesen. Ich kann abends nicht zu Veranstaltungen gehen? Dann übe ich mich in handwerklichen Dingen, die lange zu kurz gekommen sind. Natürlich klappt dieses ressourcenorientierte Denken nicht immer wie ich es möchte, dann hilft es mir, mich mit Freund*innen darüber auszutauschen, denn es geht ja nicht nur mir so.“

 

Ist die „Corona-Pandemie“ nun also für alle oder einzelne von uns, Milena, Nina und Stephan, eine persönliche Krise? Die Antwort ist Jein. Wir alle teilen die Perspektive, dass die Corona-Pandemie das Leben von Menschen weltweit, ob direkt oder indirekt, bedroht oder existentiell beeinträchtigt. Sowohl gesundheitlich als auch sozial oder finanziell ist die Corona-Pandemie für viele ein Fall ins Bodenlose. Ohne das Leid, dass die Corona-Pandemie auslöst zu reflektieren, erscheint es empathielos, fast gefühlskalt zu sagen, „eigentlich finde ich die Situation gar nicht so schlimm“. Wir als Gesellschaftsmitglieder können die Corona-Pandemie also als gesamtgesellschaftliche Krise bezeichnen, da sie für den/die Einzelne existenziell bedrohlich ist oder sein kann.

Wir selbst erleben uns in bestimmten Situationen, in Streitigkeiten mit den Freund*innen, in der Trennung von der Familie, im Wegfall von eigentlich alltäglichen Ressourcen als eingeschränkt, manchmal gar als belastet – aber nicht als in einer Krise befindlich. Diese Momente fordern uns heraus, sie machen uns Angst oder stimmen traurig, aber sie bleiben nur Momente, Situationen, die vorübergehen, die uns immer noch die Möglichkeit geben, sie auszugleichen. Eine Krise, so wagen wir für uns also zu behaupten, besteht in der Beständigkeit von Belastung(en) und in der stark erschwerten Möglichkeit, sich kognitiv Brücken aus dieser heraus zu bauen.

Diese Brücken können sehr unterschiedlich aussehen, und so finden auch wir drei jeweils individuelle Möglichkeiten, mit den Herausforderungen umzugehen: Der eine macht sich bewusst, dass Belastungen in diesen Herausforderungen „normal“ sind und erfährt dadurch Erleichterung, die andere akzeptiert die Situation, überlegt sich neue Rituale, die dritte versucht die Vorteile zu sehen. Es gibt nicht das Patentrezept, Belastungen auszugleichen – wir drei können aber raten: Darüber nachzudenken, was uns belastet und wie wir damit umgehen, sprich das Bewusstsein um eigene Herausforderungen und Brücken hilft.

In unserem DFG-Forschungsprojekt 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität“ betrachten wir aus lebens- und geisteswissenschaftlichen Perspektiven das Phänomen Resilienz. Wir hoffen, unsere mannigfaltigen Erfahrungen mit Krisen, Herausforderungen und dessen Umgangsmöglichkeiten in Zukunft besser einordnen und verstehen, um zukünftigen Krisen, wie zum Beispiel die Corona-Pandemie, besser gestalten und/oder aushalten zu können. Wie würden wir daher aus wissenschaftlicher Perspektive der einzelnen Teilprojekte unsere Bewältigungsstrategien bewerten? Was zeichnet resiliente Umgangsformen mit einer Krise aus? Lassen sich auch resiliente Personen von einer Krise berühren oder fallen gar ins Bodenlose? Wie beeinflussen bestimmte Umweltfaktoren, wie beispielsweise das von uns beschriebene sichere Arbeitsplatzverhältnis, gesunde Angehörige, unser subjektives Erleben der Corona-Pandemie?

Vielleicht haben Sie ja auch Lust, diese Fragen für sich zu beantworten und sich bewusst mit eigenen Belastungen, Fallstricken und Umgängen auseinanderzusetzen. Wir freuen uns über Kommentare und Austausch in dieser gesellschaftlichen und persönlichen Frage und laden Sie zu einer gemeinsamen Diskussion ein.

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