Zufrieden blicken wir auf unsere 2. Jahrestagung zurück:
Als Judith Gärtner (TP2, Professorin für Altes Testament an der Universität Rostock) und Lukas Radbruch (TP6, Professor für Palliativmedizin an der Universität Bonn) am Montagnachmittag (20.09.21) in das Thema der Tagung "Ausdruck von Krise, Leid und Schmerz als kulturelle Kodierung" einführten, waren die Kacheln der Videokonferenz mit vielen, erwartungsvollen Gesichtern gefüllt. Rund 40 Teilnehmer*innen kamen zusammen, um sich zwei Tage lang zu informieren, auszutauschen und neues Wissen zu generieren.
Anita Wohlmann (Department for the Study of Culture, University of Southern Denmark) gewährte mit ihrem Eröffnungsvortrag einen Einblick in die Narrative Medizin, welche von Rita Charon (Columbia University) begründet wurde. Nachdem Frau Wohlmann in das Themenfeld eingeführt und den Nutzen von literarischen Texten erklärt hatte, durften die Teilnehmenden die Möglichkeiten dieses Forschungsbereiches anhand des Textes „What the doctor said“ von Raymond Carver direkt einmal selbst ausprobieren.
Nach einer kurzen Kaffeepause ging es mit den Präsentationen der Wissenschaftlichen Mitarbeitenden weiter. Diese hatten in Gruppen bestehend aus jeweils 3-4 „project buddies“, wie innerhalb der Forschungsgruppe die fächerübergreifende Zusammenarbeit mehrerer Mitarbeiter*innen liebevoll bezeichnet wird, insgesamt drei Beiträge vorbereitet. Hierbei nahmen Thorben Alles, Viktoria Lenz und Milena Rabe (Teilprojekte 0,4,5) den Versuch vor, sich dem Thema „Krise und Resilienz“ zugleich aus einer alltagssprachlichen/lebensweltlichen, aus einer phänomenologisch-analytischen sowie aus einer ethischer Perspektive anzunähern. Margarethe Kelm, Katharina Opalka, Frank Peusquens und Katja Maus (Teilprojekte 1,2,6) wagten sich unter dem Thema „Kodierung von Schmerz“ an eine gemeinschaftliche Analyse des Psalmes 102 und Jagna Brudzinska, Stephan Bethe und Arndt Bialobrzeski (Teilprojekte 3,7,8) sprachen über das Komplexitätsverhältnis von Caretaker-Interaktionen. Einmal mehr konnte diese Arbeitseinheit zeigen, dass das interdisziplinäre Gespräch innerhalb der Forschungsgruppe gelingt. Anschließend wurde über die Tauglichkeit des Begriffs „Klugheit“ und seiner impliziten Normativität im Kontext des Resilienzdiskurses diskutiert, bevor dieser erste Tag durch ein abendliches Zusammentreffen an der virtuellen Bar abgerundet wurde.
Der Dienstagmorgen (21.09.21) startete mit einem Vortrag des Theologen Bernd Janowski (Professor für Altes Testament, Universität Tübingen) über Bilder des zerbrechenden Lebens im Alten Testament. Hierfür wurden zunächst prophetische Texte sowie darauf aufbauend zwei Beispiele genauer untersucht: eines aus dem Hiobbuch (Hi 30,24–31) und eines aus dem Psalter (Ps 102,4–12). Die Erkenntnis war, dass der Grund hierfür in der metaphorischen Sprache liegt, welche Grenzbereiche menschlicher Leiderfahrungen, die dem begrifflichen Denken verschlossen sind, veranschaulicht. Die Relevanz alttestamentlicher Texte für den medizinischen Kontext zeigte sich in der anschließenden Diskussion, wobei auch die Begriffe Schmerz und Leid sowie Bearbeitung und Bewältigung genauer differenziert wurden.
Auch Jonathan DeVore (Ethnologie, Universität zu Köln) gab mit seinem Vortrag "Captured Men: Crisis, Injurability and Contemporary Idioms of Slavery in Brazil " spannende Einblicke in die Forschung zum Krisenbegriff. Hierfür stellte er zunächst seine Feldforschung vor, die er seit 2002 in und um Kakaoplantagen in Bahia (Brasilien) betreibt und konzentrierte sich hierbei auf alternde Männer vom Land, deren körperliche Kräfte durch die Plantagenarbeit derart in Mitleidenschaft gezogen wurden, dass sie durch die notbringenden gesundheitlichen Zustände förmlich gezwungen waren, weiterhin die kräftezehrende Plantagenarbeit zu betreiben.
Anschließend stand das Thema "Lebensende" im Mittelpunkt: Die Sprachwissenschaftlerin Veronika Koller (Lancaster University) gab einen Einblick in die Arbeit mit Metaphern, indem sie zunächst das Projekt „Metaphor in End-of-Life Care“ (MELC) vorstellte, bei welchem Interviews und Online-Forum-Beiträge von Mitgliedern verschiedener Personengruppen (medizinisches Fachpersonal, Patient*innen und pflegende Angehörige) analysiert wurden, um herauszufinden, wie Metaphern jeweils hinsichtlich Erfahrungen, Einstellungen und Erwartungen in Bezug auf die Pflege am Lebensende verwendet werden (z.B. Palliativbehandlung, Vorbereitung auf das Sterben). Mit dem nachfolgenden Vortrag „‚Alles, was eine Stimme hat, überlebt.‘ Das Projekt ‚Familienhörbücher‘ in der Palliativversorgung junger Mütter und Väter“ stellte die Audiobiografin Judith Grümmer aus Köln ihr Herzensprojekt "Familienhörbuch" vor. Dieses bietet schwer erkrankten Patient*innen mit kleinen bzw. heranwachsenden Kindern die Möglichkeit, ihre Lebensgeschichte zu erzählen und festzuhalten.
Bevor es in eine Abschlussdiskussion ging, referierte Eberhard Hauschildt (TP8, Professor für Praktische Theologie, Universität Bonn) zur Krisenseelsorge. Einleitend wies er auf die historische Entwicklung der verschiedenen Formen professioneller Begleitung (medizinisch, seelsorgerlich, psychotherapeutisch) von Patient*innen in Krisen hin und stellte einen Bezug zum „total pain“-Konzept (Cicely Saunders) her, welches im Laufe der Tagung des Öfteren Berücksichtigung fand. Anschließend wurden zwei alltägliche verbale Ausdrucksformen der Krise diskutiert: Zum einen die Frage nach dem "Warum?", welche in der Situation der persönlichen Krisenerfahrung relativ wahrscheinlich die Wendung hin zur Adressierung an die letzte in der Kultur übliche verantwortliche Instanz „Gott“ nimmt. Zum anderen wurde das aus einer Gruppendiskussion unter Psychotherapeut*innen stammende Zitat "Alles ist Scheiße" vorgestellt und in seinen Kontexten des Gruppengespräches interpretiert.
Festzuhalten ist, dass die Tagung nicht nur die interdisziplinäre Arbeit innerhalb der Forschungsgruppe praktisch veranschaulichen konnte. Trotz kultureller und historischer Verschiedenheiten zwischen Klagegebeten des Psalters als Arbeitsmaterialien des Alten Testaments und der Interviews mit Menschen in palliativen Versorgungssituationen als Arbeitsmaterialien der Palliativversorgung konnten einleuchtende Parallelen sowie neue Blickwinkel in Bezug auf die Resilienzthematik aufgezeigt werden, die sowohl fachspezifisch als auch interdisziplinär zum Weiterdenken anregen. Mit einer "virtuellen Kaffeerunde" am Nachmittag wurden zwei spannende Tage beendet.
Erwähnt seien an dieser Stelle auch einige tierische Mitbewohner, die ab und zu das Geschehen am Bildschirm mitverfolgten oder auch durch ein lautes "Miau" ein Lächeln auf die Gesichter zauberten und somit zur allgemeinen Erheiterung der Online-Tagung beitrugen. Wir bedanken uns bei allen Teilnehmenden für den gewinnbringenden Austausch und freuen uns, Sie bei einer unserer nächsten Veranstaltungen wieder begrüßen zu dürfen!