23. Juli 2021

Der bittere Kelch und gute Mächte Der bittere Kelch und gute Mächte

Ergänzung des Verständnisses von Resilienz durch die Integration von Negativität am Beispiel Bonhoeffers

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neues_aus_dem_resilienzprojekt.jpeg © Evang.-Theol. Fakultät
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Dietrich Bonhoeffers Umgang mit der eigenen Gefangenschaft mag von vielen Menschen als Ausdruck von Resilienz interpretiert werden, wie sich beispielsweise anhand seines bekannten und vielfach vertonten Gedichts „Von guten Mächten“ ausführen ließe. Inwiefern diese Einschätzung berechtigt ist und inwiefern sie problematisch ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Denn daraus lässt sich Resilienz exemplarisch etwas genauer verstehen.

Ein Text von Thorben Alles und Svenja Nolte aus TP 0.

„Von guten Mächten wunderba geborgen…“ – viele Leser*innendürften bereits ab dieser Stelle einen Ohrwurm haben. Im Folgenden soll anhand dieses Liedes, vor allem anhand von dessen Text im Kontext der Interpretation des Lebens Dietrich Bonhoeffers, gezeigt werden, wie sich das klassische Resilienzverständnis durch den Aspekt „Integration von Negativität“ vertiefen lässt.Während es interessante weitere Vertonungen, zum Beispiel von Otto Abel (zu finden im Evangelischen Gesangbuch, Nr. 65), gibt, gehen wir von der wohl bekanntesten Vertonung durch Siegfried Fietz aus. Die simple Melodieführung und Rhythmik sorgen für eine Eingängigkeit, welche das Lied schwer wieder vergessen lässt. Die etwas tiefer und mit kleineren Intervallen, rhythmisch jedoch nahezu parallel gesetzten Strophen gehen dabei neben dem dominanten heiteren Schwung des nach jeder Strophe wiederholten Kehrverses und der dort thematisierten tröstlichen Gewissheit des Beistandes Gottes fast unter. Die beschriebene Melodie ist zum Beispiel im Evangelischen Gesangbuch im landeskirchlichen Teil der Evangelischen Kirche im Rheinland unter der Nummer 652 zu finden. Der Text ist dem Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“ (betitelt nach dem ersten Vers) des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer entnommen. Fietz wandelt allerdings den Aufbau so um, dass sich auch eine inhaltliche Verschiebung ergibt, auf die wir am Ende der Ausführungen noch einmal zurückkommen werden: Der im Lied immer wiederholte Kehrvers ist in Bonhoeffers Gedicht die letzte Strophe. Viele werden vielleicht auch die von Fietz selbst gesungene Version im Ohr haben, welche die Strophen 3, 4 und 6 ganz auslässt, was natürlich noch einmal eine ganz andere Akzentverschiebung bewirkt. Im Folgenden konzentrieren wir uns jedoch auf Bonhoeffers Gedicht.

Zum Entstehungshintergrund muss man wissen, dass Bonhoeffer sein Gedicht in der Berliner Gestapo-Haft schrieb, in der er sich aufgrund zuerst undurchsichtiger Umstände, später aufgrund der Mitarbeit am Widerstand gegen Hitler befand. Er fügte es einem Brief vom 19. Dezember 1944 an seine Verlobte Maria von Wedemeyer bei, als Weihnachtsgruß an sie und seine Familie. Wenige Monate später, am 9. April 1945, wurde er von den Nationalsozialisten ermordet.

Aus der geschichtlichen Situation Bonhoeffers betrachtet ist das Gedicht (oder auch das Gebet) vordergründig als Wiederspiegelung seiner existenziellen Sorgen zu verstehen. Bonhoeffer ist seit April des Vorjahres in Haft und blickt in eine unsichere Zukunft. Zu diesem Zeitpunkt scheint es ungewiss, ob er seine Angehörigen jemals wiedersehen kann. Die Kontextualisierung des Textes legt es nahe, dass Bonhoeffer seine Bedrängnis (zumindest auch) aus seinem Glauben und mithilfe der Bilder und Vorstellungen christlichen Glaubens gedeutet hat. So schreibt er in der dritten Strophe seines Gedichtes zum Beispiel vom schweren, bitteren Kelch. Es handelt sich hierbei um ein Motiv aus der Passion Jesu, der Gott bittet, dass der Kelch (das Leiden und der Tod am Kreuz) ihm erspart bleibe, sofern er, Gott, es wünsche (vgl. Mk. 14,36; Mt 26,39). Des Weiteren wird es im Buch Jeremia für das Gericht Gottes verwendet: Die Völker müssen aufgrund ihrer Verfehlungen aus dem mit Zorn gefüllten Kelch trinken und werden dadurch vernichtet (vgl. Jer 25,15–29). Dieses starke Bild kann das Ausmaß des Leidens sowie die Möglichkeit des baldigen Todes ausdrücken. Der Prozess des Schreibens und anschließenden Rezipierens könnte so Bonhoeffer die Möglichkeit eröffnet haben, seinen Sorgen und Nöten Raum zu geben, sich selbst über die eigene Situation bewusst zu werden und sie zu reflektieren.

Wie Bonhoeffer selbst seine Situation wahrgenommen hat, was er empfunden hat, ob er Trost erfahren hat, lässt sich aus methodischen Gründen nicht ohne Schwierigkeit feststellen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er den „Kelch des Leids“ als jüngerer Mensch anders interpretiert haben könnte als zur Zeit der Haft. So ließe sich die Metapher des Kelchs ausgehend von seinem Werk „Nachfolge“, das er 1937 – also vor dem Zweiten Weltkrieg – verfasst hat, als Teilhabe an Christi Leid verstehen. In der Nachfolge Christi wüsste Bonhoeffer sich von guten Mächten geborgen und schöpfte daraus Kraft, durch das Leiden hindurch die Welt zu gestalten. Zumindest auf der Ebene des Gedichttextes, also sieben Jahre später und im Kontext von Krieg und Haft, ist allerdings kein Engagement im Sinne der Nachfolge Christi als politisches, ethisches oder kirchliches Gestalten formuliert. Hier wird durch die direkte Ansprache an Gott ein Deutungs- und Verstehenshorizont eröffnet, der möglicherweise die Frage nach dem Warum leichter werden lässt: Die Vorstellung, die das Bild des Kelches vermittelt, nämlich die eigene Situation aus Gottes Hand anzunehmen, kann die Möglichkeit eröffnen, Frieden mit ihr zu schließen. Die durchaus schwierige Vorstellung, dass menschliches Leid Gottes Wille sein könnte, kann dazu führen, das eigene Schicksal besser akzeptieren zu können. Damit bekommt es vielleicht sogar einen Sinn. Der Kelch verweist dabei nicht nur auf Gethsemane und die Passion allein, sondern auch auf das nachfolgende Ereignis, auf Ostern, und damit auf die Auferstehung. Dieses religiös so stark aufgeladene Bild verkörpert daher bereits die größte Hoffnungsperspektive. Der Kelch steht auch für die Perspektive, dieses Leid zunächst auszuhalten und gibt der Idee, dass die Situation – soweit sie nicht in der eigenen Macht steht – angenommen werden muss, den Vorzug gegenüber einem verzweifelten Ankämpfen gegen sie.

Während die mittleren Strophen nur teilweise Hoffnungsperspektiven aufzeigen und zu Beginn der Strophen jeweils erst einmal das Leid in den Vordergrund stellen, nimmt die letzte Strophe (der im Lied von Fietz wiederholte Kehrvers) eine Sonderrolle ein, indem die ganze Strophe eine Hoffnungsstrophe ist. Schon im Alten Testament findet sich in den Klagepsalmen in den letzten Versen häufig ein Stimmungsumschwung, eine Wendung von der Klage hin zum Vertrauen in Gott. Auch wenn dieser Stimmungswechsel zuweilen plötzlich erscheint, entsteht er nur über den Weg, Leiden in Sprache zu fassen. Dann kann sich auch – wie in der letzten Strophe – eine Perspektive der Geborgenheit und des Trostes eröffnen. Trotz oder gerade in einer ungewissen Zukunft ist es möglich, auf Gott zu vertrauen, sich seiner Gegenwart bewusst zu sein oder zu werden.

Die im Gedicht aufgerufenen Bilder und Motive dienten traditionell und dienen auch unter der zuvor skizzierten Interpretation im Gedicht Bonhoeffers wieder dazu, das Leid, die Sorgen, die Ängste und gegebenenfalls auch die Verzweiflung als solche auszudrücken, sie als gegeben anzunehmen, sie nicht kleinzureden oder zu verdrängen: Wenn es einem schlecht geht, dann darf man dies auch aussprechen. Die Abgründigkeit, das Unglück wird also nicht einfach bestritten. Gleichzeitig gibt man sich mithilfe dieser Artikulationsformen aber auch nicht, zumindest nicht dauerhaft, der reinen Verzweiflung hin. Denn zugleich, im Benennen und Anerkennen des Leids, drückt sich eine mögliche Perspektive der Hoffnung aus, der Hoffnung, dass man selbst im schlimmsten Leid – so sinnlos es einem auch erscheinen mag – nicht von Gott getrennt ist. Ob sich für das Leiden jemals ein Sinn finden wird oder nicht, steht dahin; aber die Hoffnung auf die Geborgenheit in Gott ist immerhin ein erster Schritt, neuen Sinn zu eröffnen.

Auch wenn es sich nur um eine exemplarische, partikulare und unvollständige Analyse handelt, lassen sich dennoch vorsichtige Schlüsse für das Verständnis von Resilienz ziehen. Denn klassische Faktoren von Resilienz wie angemessene Selbst- und Fremdwahrnehmung, positive Selbstwirksamkeitserwartung, Autonomie und soziale Kompetenz, die Fähigkeit zu Selbstregulation und -steuerung sowie die Fähigkeit, Herausforderungen aktiv anzunehmen und zu bearbeiten, zielen größtenteils (zumindest im üblichen Verständnis) darauf, die jeweilige Krise möglichst klein zu halten und sie möglichst effektiv hinter sich zu lassen. Wie hier exemplarisch vorgestellt wurde, könnte es in manchen Situationen aber gerade entscheidend sein, die Krise, das Unglück, das (eigene) Leid, die (eigene) Verzweiflung, Trauer, Unsicherheit, Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit usw. auszudrücken und sie nicht zu verharmlosen oder möglichst zu ignorieren. Zugleich genügt es oftmals auch nicht, bei der einfachen Benennung oder Wahrnehmung dieser Negativitäten, wie sie zusammenfassend benannt werden können, stehen zu bleiben, sich gleichsam in sie aufzugeben. Vielmehr geht es darum, sie in einen Prozess der Verarbeitung aufzunehmen, sie in diesem Sinne auszuhalten und sie dabei neu zu gestalten. Dies ist mit „Integration von Negativität“, die den üblichen Aspekten von Resilienz zur Seite gestellt werden kann, gemeint. Traditionelle, also bereits zur Verfügung stehende Versprachlichungen (hier die biblischen Bilder und Motive), können je nach Situation dazu geeignet sein, die Integration von Negativität zu unterstützen.

Davon ausgehend ist nun zum Abschluss noch einmal ein Blick auf die in der Einleitung erläuterte Vertonung von Bonhoeffers Gedicht durch Fietz zu werfen. Wie bereits erwähnt, bewirkt die Wiederholung des Kehrverses bei Fietz große Veränderungen. Es besteht die Gefahr, dass damit den Nöten ihr Raum genommen werden könnte zugunsten einer allzu optimistischen Perspektive. In einer Situation wie der Bonhoeffers, einer existenziellen Notlage, könnte ein solcher Optimismus geradezu verhöhnend wirken, weil er über die Realität hinweggeht. Nun handelt es sich um eine Notlage, in die wir uns aus unserer Zeit und Situation heraus in der Regel und zum Glück – oder hoffentlich – nicht hineinversetzen können. Die Schwere, die in Bonhoeffers Gedicht transportiert wird, kann dadurch auch überfordernd wirken. Daher könnte in manchen kleineren und mittelschweren Krisen Fietz‘ Vertonung ansprechen als eine Vertonung, bei der die Gewissheit um Geborgensein und Trost nicht erst den langen Weg braucht, alles Leiden zu thematisieren. Stattdessen besteht hier die Möglichkeit, diese Gewissheit den in den einzelnen Strophen thematisierten Nöten direkt gegenüberzustellen. Sowohl Bonhoeffers Gedicht als auch Fietz Vertonung können je nach Kontext somit eine Haltung auszudrücken und eventuell auch entwickeln helfen, die situativ einen resilienten Umgang mit Krisen erleichtern kann.

 

 

Dieser Artikel thematisiert und vertieft einen Aspekt aus: Richter, Cornelia/Alles, Thorben: „… und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Bonhoeffer als „role-model“ für Resilienz?, in: Spiritual Care 10/2 (2021), 156–164.

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