Anna Culmann, Studentische Hilfskraft in TP5, lädt ein, sich in die Welt Beethovens, die Musik zu begeben und ihre kraftspendenden Elemente für Krisenzeiten zu erkunden.
Ein Beitrag von Anna Culmann
„So lange du, Gott, mir die Musik gibst, muss ich leben. (…) Herr, gib mir die Kraft, mich zu besiegen.“ Dieses Zitat stammt aus dem Heiligenstädter Testament, welches Beethoven 1802 während eines Kuraufenthaltes in der gleichnamigen Stadt schrieb. Es beschreibt das Ringen Beethovens mit sich selbst und seinem Leiden, gibt aber auch einen Hinweis darauf, wie viel ihm die Musik gerade in diesen Zeiten gab und welche große Kraftquelle der Glaube für ihn war.
Wenn es um Resilienz bei Musiker*innen geht, war Beethoven im Beethovenjahr 2020 ein oft genannter Name. Aber warum ist das so?
Ein krisenhafter Prozess in Beethovens Schaffens- und Lebenszeit war die kontinuierliche Verschlechterung seines Hörens bis hin zur vollständigen Taubheit mit nur 48 Jahren. Dies bedeutete für ihn eine eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit mit seinen Mitmenschen und somit einen Rückzug Beethovens in ein Leben ungewollter Einsamkeit und Isolation. Auch Angst und Scham, sein Umfeld könne seine Schwerhörigkeit bemerken, begleiteten ihn in dieser Zeit. Hinzu kamen paranoide Angstzustände, übermäßiger Alkoholkonsum und weitere gesundheitliche Einschränkungen. Diese Entwicklungen zeigten sich auch in einigen seiner folgenden Werke. Das äußere Ohr Beethovens war nun verschlossen und führte wohl dazu, das innere Ohr umso mehr hörbar werden zu lassen. Gerade in dieser Phase entstanden neun Symphonien, 32 Klaviersonaten, 16 Streichquartette und viele Stücke mehr – am Ende sogar die große Missa solemnis.
Während Beethoven zu Beginn seiner Hörverschlechterung auf das Einbauen hoher Tonlagen in seinen Kompositionen verzichtete, da er diese nicht mehr hören konnte, änderte sich dies später nach und nach. Beethovens inneres Ohr muss also so sensibel und lebendig, und seine Vorstellungskraft der Melodieverläufe und Harmonien so bildlich und klar geworden sein, dass er trotz eingeschränkter Hörfähigkeit einzigartige Kompositionen erschaffen konnte. Gerade die 9. Symphonie, mit ihrer hohen Komplexität und Klangfarbenvielfalt, sticht hier heraus. Beethoven komponierte sie primär zwischen 1821 und 1823, eine Zeit in der er bereits vollständig seine Hörfähigkeit verloren hatte.
Die Skizzen der 10. Symphonie Beethovens, der Unvollendeten, weisen darauf hin, dass Beethoven sich hier insbesondere mit dem Thema der Spiritualität befasste. Er wollte den Choral Herrgott dich loben wir in alten Kirchentonarten vertonen. Im Kontrast zur 9. Symphonie zeigt sich hier ein nach innen gekehrter Komponist, der seinem Innersten einen Ausdruck verleihen möchte - vielleicht auch gerade im Bewusstsein seines baldigen Todes. Besonders in dieser Phase seines Lebens scheint ihm der Glaube, in Verbindung mit seinem musikalischen Schaffen, eine große Quelle des Trostes und der Hoffnung gewesen zu sein. Also wenn das nicht Resilienz in Spiritualität ist?
Dieses Jahr wurde die Unvollendete nun durch eine Künstliche Intelligenz zu Ende komponiert und gemeinsam mit dem Beethoven Orchester Bonn und ihrem Dirigenten Dirk Kaftan uraufgeführt. Es scheint fast so, als sei das Einfügen der Orgel in den 4. Satz der 10. Symphonie ein Versuch, die Spiritualität von außen in das Stück hineinzutragen. Matthias Röder, Leiter des Projektes, sagte dazu: „Das Instrument steht für das Spirituelle. Die Orgel ist gewissermaßen eine Schlussfolgerung aus unserer Interpretation seiner Skizzen.“ Bach war selbst Organist und ein großer Förderer der Orgelmusik zur Barockzeit, die elektrische Orgel aber, die in der 10. Symphonie zum Einsatz kommt, gab es zu seinen Lebzeiten noch nicht.
Die Orgel hat in ihrer Funktionsweise einen mechanischen Charakter, kann aber durch das Spiel und durch die individuelle Interpretation lebendig werden und hat aufgrund der Assoziation mit ihrer Hauptfunktion der Liturgiebegleitung im kirchlichen Gottesdienst grundsätzlich einen spirituellen Charakter. Grundsätzlich aber ist sie als Gesamtkunstwerk zu betrachten und kann, beispielsweise mit Blick auf so manche romantische Orgel, einerseits ein ganzes Orchester imitieren, andererseits aber auch mit Wahl der passenden Register einen ganz zarten und weichen Klang hervorbringen. Dieses große Klangspektrum macht die Orgel zu einem einzigartigen Instrument und so ist es ebenso besonders, dass sie in die 10. Symphonie mit einbezogen wurde.
Für mich persönlich ist die Musik eine wichtige Ressource, sei es das Hören von Musik oder das aktive Spielen von Musik, besonders der Klavier- und Orgelmusik. Wenn ich selbst an der Orgel sitze, spüre ich immer wieder, wie viel Kraft von diesem Instrument ausgeht, unabhängig davon, was ich auf ihr spiele. Jedes Spiel an der Orgel ist wie eine Entdeckungsreise, ein Suchen nach den passenden Registern und entsprechenden Klangfarben, die zum Lied oder Stück passen, ein Aufeinander-abstimmen der verschiedenen Werke der Orgel, ein Hineinversetzen in die Hörer*innen und ein Hineinhören in mich selbst. Und das Wissen darum, dass die Musik nicht nur mir selbst guttut und Kraft spendet, sondern auch denen, die diese Musik einmal hören werden. Auch wenn das Orgelspiel eine Form des Musikspiels ist, bei dem man viel allein ist, so kann auch gerade dieses Alleinsein zu großer Kreativität und neuem, unverfänglichen Ausprobieren führen und einen schönen Ausgleich zum lauten Leben außerhalb des Kirchenraumes schaffen.
Auch aus wissenschaftlicher Perspektive unterstützen das Hören und Machen von Musik die emotionale Regulierung, wie sich besonders in dieser Pandemie zeigt. Die Ergebnisse einer großen internationalen Studie des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik mit über 5000 Teilnehmenden weisen so z. B. daraufhin, dass für Menschen, die mit vielen negativen Emotionen konfrontiert sind, das Hören von Musik bei der Regulation von Angst, Stress und Depressionen helfen kann. Menschen hingegen, die eher eine positive Grundstimmung aufweisen, nutzen das Hören von Musik als Ersatz für soziale Interaktionen. Musik schafft also Gemeinschaft und kann ebenso der Selbstreflexion dienen.
Natürlich darf bei all den thematisierten Aspekten rund um die positive und stärkende Wirkung von Musik und Spiritualität nicht vergessen und ebenso wenig beschönigt werden, dass diese beiden allein ohne ein stützendes soziales Netz und andere Resilienzfaktoren den Menschen wohl kaum gesund halten bzw. ihm die nötige Kraft in Krisenzeiten geben können. Zudem ist im Zusammenhang mit Beethoven seine ohnehin schwierige Persönlichkeit zu erwähnen, die sicherlich auch einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Umwelt und seines eigenen Erlebens gehabt haben wird. Fest steht aber, dass Musik für viele Menschen eine große Kraftquelle ist, besonders in Zeiten, in denen Herausforderungen begegnen und in denen es schwieriger ist als sonst, gut durch den Alltag zu gehen. Gerade hier kann Musik helfen, Gemeinschaft stiften und Freude bereiten. Und vieles mehr… Oder um es mit den Worten von Matt Haig zu sagen: „Musik dringt nicht ein. Musik ist bereits da. Musik deckt auf, was in einem ist, lässt uns Emotionen spüren, derer wir uns nicht bewusst sind, stürmt durch die Seele und erweckt alles zum Leben.“