Ein Beitrag von Thiemo Breyer und Anna Janhsen.
Soziale Kontakte werden in der Resilienzforschung, aber auch gemeinhin, als wesentlicher Resilienzfaktor angenommen. Stellt man sich die Frage, ausgehend von diesem sehr allgemeinen Plateau der sozialen Kontakte, unter dem sich zunächst das gesamte zwischenmenschliche Interaktionsgeschehen unspezifisch ausbreitet, welche konkreten resilienzfördernden Kräfte denn dort am Werk sind, so scheint doch Empathie prima facie ein entscheidender Kandidat zu sein. Jeder kennt die aufbauenden Emotionen, die sich in der empathischen Bezugnahme freisetzen: das Gefühl verstanden zu werden, da abgeholt zu werden, wo man steht; die Gefühle des Vertrauens und das gemeinsame Fabrizieren sinnstiftender Erzählungen, das Fallen zwischenmenschlicher Barrieren, das wechselseitige körperliche Einschwingen, die Atmosphäre eines innerlichen Beisammenseins. Die empathische Bezugnahme ist vielschichtig, multidimensional. Sie stiftet interpersonale Resonanzräume, die auf unterschiedlichen Vollzugsebenen (kognitiv, emotional, leiblich-affektiv, narrativ) die Interagierenden in wechselseitige Schwingung versetzen. In unterschiedlichen Graden der Intensität und sicherlich auch mit qualitativen Unterschieden durchziehen empathische Resonanzräume das komplexe Gewebe der sozialen Kontakte und ermutigen Menschen, die sich im Aushandlungsprozess einer Krise befinden.
In einem ersten Schritt lassen sich die unterschiedlichen Vollzugsebenen der Empathie durch eine allgemeine phänomenologische Beschreibung gut einfangen. Doch ferner müssen Unterschiede in Intensität und Qualität und damit auch die unterschiedlichen Ausprägungen der Empathie als Resilienzfaktor soziologisch an den verschiedenen Verhältnissen sozialer Rollentypen festgemacht werden. So erwarten wir z.B. in Freundschaften, Liebes- oder Verwandtschaftsbeziehungen von unserem Gegenüber empathische Reaktionen und ein gewisses Maß an Anstrengung, sich aktiv in unsere Lage einzufühlen, wenn wir eine Krise durchleben. Wir scheuen uns nicht davor sie einzufordern, ja sind enttäuscht und wütend, wenn sie ausbleibt und wir auf zerstreute Unaufmerksamkeit, halbherzige Zuwendung oder gar Gleichgültigkeit stoßen.
In derlei sozialen Beziehungen korrespondiert ein moralischer Anspruch desjenigen, der Stress, Ängsten und Widrigkeiten ausgesetzt ist, der Tugend des jeweiligen Gegenübers, so gut es eben geht die fürsorgende Kraft der Empathie einzusetzen, um bei der Bewältigung der Krise Unterstützung zu leisten. In anderen sozialen Relationen, etwa zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zwischen Dienstleister und Empfänger, zwischen Lehrenden und Schüler*innen etc., verändert sich freilich die Konfiguration der empathischen Bezugnahme und ihr resilienzförderndes Potenzial muss unter den veränderten Bedingungen neu abgefragt und bewertet werden. Eingedenk derartiger sozialer Spezifizierungen betrachten Breyer & Jahnsen in ihrem Aufsatz die besondere Rolle der Empathie in der Gesundheitsversorgung und untersuchen inwiefern eine normative Erwartungshaltung, die die empathische Zuwendung von Pflegekräfte und Ärzt*innen zu einer professionellen Pflicht und Tugend macht, gerechtfertigt ist. Sollten Patient*innen einen moralischen Anspruch auf die Empathie der behandelnden Personen haben? Wäre ein solcher Anspruch in diesem Kontext gerechtfertigt oder würde er sich eher hinderlich auswirken?
Gewiss, in der Betreuung und Behandlung kranker, sterbender oder behinderter Menschen bedarf es sicherlich nicht allein eines technisch-instrumentellen Bezugs des Behandelnden zum Behandelten. Pflegekräfte und Ärzt*innen wenden sich ihren Patient*innen nicht zu wie ein Chirurg einem verletzten Organ. Gleichwohl ist der Interaktionsraum in der medizinischen Praxis ein professionelles Verhältnis und durch eine Asymmetrie in der zwischenmenschlichen Relation geprägt, die ihn deutlich von Freundschafts- oder Liebesbeziehungen abgegrenzt. Um dieser besonderen sozialen Konfiguration gerecht zu werden nehmen sich Breyer & Jahnsen vier Modelle der Beziehung zwischen Patient*innen und Professionellen zur Hilfe, die von der Mediziner*in und Ethiker*in Ezekiel und Linda Emanuel entwickelt wurden. Die Modelle zeigen idealtypische Art und Weisen wie Ärzt*innen sich im Prozess der Entscheidungsfindung und Beratung hinsichtlich der unterschiedlichen Möglichkeiten des medizinischen Behandlungsprozesses verhalten können. Dabei ändert sich in den verschiedenen Modellen jeweils die Gewichtsverlagerung zwischen der Entscheidungshoheit des Behandelnden und des Selbstbestimmungsrechts der Patient*innen sowie zwischen Einflussnahme auf die Wertvorstellung der Patient*innen von Seiten des Arztes oder dessen Zurückhaltung. Die Behandelnden – und das wird deutlich in den Modellen – können ihre Rollenposition durchaus so auslegen, dass eine empathische Bezugnahme völlig fehl am Platz wäre.
Nur in einem Modell dehnt der Arzt die Grenzen der professionellen Distanzwahrung soweit aus, dass ein mehrschichtiges, wechselseitiges In-Resonanz-Treten mit den Patient*innen überhaupt möglich wird. Bevor man nun vorschnell an dieser Stelle die kühl-objektive, distanzwahrende Ärztin kritisiert und im Namen der resilienzförderlichen Potenziale jener den Vorzug gibt, die einen empathischen Resonanzraum im Patient*innenverhältnis möglich macht, sollte man sich, wie Breyer & Jahnsen hervorheben, die spezifische soziale Situation im Gesundheitswesen erneut vor Augen führen. Denn auf Menschen, die im Gesundheitswesen tätig sind, lastet bereits ein enormer Arbeitsdruck, sodass eine normative Anweisung zur empathischen Bezugnahme leicht zu Überbelastungen führen kann. So scheitert in gewissen Maßen der Resilienzfaktor Empathie, der sicherlich den Patient*innen zu Gute kommen würde, an den institutionellen Gegebenheiten im Gesundheitswesen. Und bevor diese nicht verändert wurden, sollte man sich mit der Forderung zurückhalten, ihn bedingungslos als medizinische Tugend von den Behandelnden einzufordern.