Ein Text von Marvin Gärtner und Dr. Katharina Opalka aus TP 2
Wer sich dieses Jahr des öfteren gefragt hat, welchen Tag wir eigentlich haben, darf hier gerne weiterlesen. Heute ist Sonntag. Aber Totensonntag oder Ewigkeitssonntag? Marvin Gärtner und Dr. Katharina Opalka, studentische Hilfskraft und Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Teilprojekt 2, reflektieren anhand ihrer Forschung zu Kreuz und Auferstehung als Resilienznarrative die Bedeutungen dieser beiden Bezeichnungen für denselben Tag:
„Welcher Tag ist eigentlich heute?“ In diesem Jahr ist dies eine Frage, die manchmal kaum zu beantworten ist, weil vieles aus der Zeit gefallen scheint, weil eigentlich doch gerade erst März war, weil vieles gleichzeitig und unendlich gedehnt erscheint. Es hilft, wenn man zumindest ein paar Orientierungspunkte hat, die auch dieses Jahr einteilen. In der ganz praktischen Zeiteinteilung der gemeinsamen Arbeit der Forschungsgruppe zur Resilienz orientieren wir uns in der Wahrnehmung der Zeit am Projektplan, an Deadlines und an den Vorgaben durch das akademische Jahr. In der Theologie gibt es nun das Bewusstsein für eine weitere Zeiteinteilung, die mitläuft und eine weitere Perspektive liefert: Das Kirchenjahr. Dieses endet in diesem Jahr am 22. November 2020 mit der Feier des Totensonntags, bevor in der darauffolgenden Woche das neue Kirchenjahr mit der Feier des 1. Advents beginnt. Totensonntag, der Tag, an dem man die Namen der Verstorbenen des vergangenen Jahres vorliest, in der viele eine Kerze für die Verstorbenen anzünden, von Ihnen erzählen und an Sie denken. Der Umgang mit dem Tod, Trauer und Verzweiflung angesichts des Todes von nahestehenden Menschen und den kaum zu beschreibenden Gefühlen angesichts des Bewusstseins für den eigenen Tod sind wichtige Aspekte für die Frage nach Resilienz.
Dass am Sonntag in den evangelischen Kirchen Totensonntag gefeiert wird, kann beim Blick in einige Kalender nun Verwunderung auslösen: Ist nicht eigentlich Ewigkeitssonntag? Zwei Namen für denselben Feiertag, was ist da geschehen? Entstanden ist der Ewigkeitssonntag als Feiertag in der Reformationszeit aus der reformatorischen Kritik gegen das bisherige Verständnis von Allerseelen und dessen heilbringende Wirkung für die Verstorbenen. Deshalb wurde seit Mitte des 16. Jahrhunderts stattdessen ein Ewigkeitssonntag (manchmal auch ‚Fest des jüngsten Tages‘ genannt) gefeiert. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ordnete König Friedrich Wilhelm III. von Preußen in den Kirchen der Altpreußischen Union ein Erinnerungsfest für die Verstorbenen an, woraus der Name ‚Totensonntag‘ entstand. Nun stehen wir heute mit zwei Namen für denselben Tag da. Zwei Namen, die in sich bedeutende Unterschiede tragen. Die beiden unterschiedlichen Bezeichnungen führen unterschiedliche Implikationen mit sich.
Der Totensonntag ist ausdrücklich eine Feier zur Erinnerung an die Verstorbenen – zumindest war dies die Intention dieses Tages und ist somit eine Spur, die sich bis heute hindurchzieht. Es ist ein Gedenken der Lebenden an diejenigen ihrer Gemeinschaft – der eigenen Familie, der eigenen Gemeinde, der eigenen Nation, oder generell der Menschheit – die verstorben sind. Dazu gehört deshalb oft das Verlesen der Namen der Verstorbenen, um diese aktiv in Erinnerung zu halten. Dabei kommen gemeinsame Erlebnisse, Gespräche, Anekdoten, vielleicht auch der Klang der Stimme, das Lachen und das, was uns mit den Verstorbenen verbunden hat, in Erinnerung. Von diesen Erlebnissen und dem, wie die Person war, können wir uns gegenseitig erzählen.
Wir erzählen von etwas, das jenseits der existentiellen Grenze zwischen Leben und Tod liegt – wir erzählen uns von den Toten. Aber in welcher Form findet dies im Totengedenken statt? Die Grenze bleibt in unserer Sprache kontinuierlich anwesend und spürbar, vor allem dann, wenn von den Verstorbenen als Gruppe, die abgesondert von den Lebenden sind, gesprochen wird. In unserem Erzählen ist die Grenze des Todes eine, an die wir alle einmal stoßen werden. Gerade in ihrer abstoßenden und angstauslösenden Wirkung kann die Grenze menschlichen Seins, die Endlichkeit menschlichen Lebens, auch Faszination auf uns ausüben, indem sie uns auf die Grenzen der Erkenntnis verweist. Einige verspüren möglicherweise Neugier, was jenseits dieser Erkenntnisgrenze liegt. Der Grund für das Totengedenken kann jedoch in der emotionalen Reaktion gesehen werden, die die existentielle Grenze zwischen Leben und Tod auslöst. Das Nicht-Sein, so mit dem Theologen Paul Tillich gesprochen, dass unsere gesamte menschliche Existenz bedroht, kommt angesichts des Todes eines nahestehenden Menschen ganz nah. Im Erzählen am Totensonntag – und im Totengedenken generell – widersteht der Mensch der Ausblendung der Verneinung der Existenz: Gerade trotz der Angst vor dem Nicht-Sein wird von den Verstorbenen erzählt, indem sich die Erzählenden dem oft schmerzhaften Erinnern aussetzen (Paul Tillich, Der Mut zum Sein).
In der ritualisierten Form des Totensonntages hat der Mensch die Sprachlosigkeit angesichts des Nicht-Seins nach dem Tode in die Erzählung (das Vorlesen der Namen, sowie die Erinnerung und das Gedenken an die Verstorbenen, …) am Totensonntag eingebunden und zur Sprache gebracht. Das Erzählen von den Verstorbenen am Totensonntag schafft eine Beziehung zwischen Erzählenden und Verstorbenen über die existentielle Grenze des Endes menschlichen Lebens hinweg. Den Erzählenden und denen, die an der Erzählung teilhaben, ergeben sich Möglichkeiten des Ergriffen- und Berührtsein durch die emotionale und/oder affektive Reaktion auf die Erzählung des vergangenen Leben der Nun-Nicht-mehr-Seienden. Das Ritual an Totensonntag schafft einen Resonanzraum, der die existentielle Grenze des menschlichen Lebens transzendiert, und Beziehung zwischen den Verstorbenen und den Lebenden schafft in vollkommener Anerkennung dieser Grenze als existentielle, unauflösbare Grenze. Die Anerkennung dieser Grenze ist gerade das, was die Erzählung bedingt. Die Erzählung des Totensonntages erkennt die Grenzen des Menschen in seiner Existenz an, jedoch ohne notwendig auf Vorstellungen von der Aufhebung dieser Grenzen im Ewigen Leben, im Reich Gottes, zu verweisen.
Anders sieht es hingegen mit dem Ewigkeitssonntag aus: Dieser Titel des Sonntages verordnet sich bewusst deutlich innerhalb des Kontextes einer bestimmten Perspektive auf die Welt, nämlich der christlichen. Ewigkeitssonntag kann man nur feiern, wenn man die dahinterliegende Hoffnung teilt, die Hoffnung auf die Ewigkeit, die die Grenze zwischen Leben und Tod transzendiert. Die Erzählungen am Ewigkeitssonntag erzählen an der Erkenntnis- und existentiellen Grenze weiter, an der Erzählungen sonst zu ihrem Ende kommen. Die existentielle Krise der Endlichkeit menschlichen Lebens wird im Ewigkeitssonntag neu kontextualisiert: Die Sprache des Ewigkeitssonntages deutet schon im Namen auf einen fundamental anderen Umgang mit der existentiellen Grenze zwischen Leben und Tod hin, da sie auf eine Zeit verweist, die in ihrer Qualität, diese Grenze nicht beinhaltet.
Als Verheißung an Christ*innen entzieht die Ewigkeit bestehenden Sinn und stiftet im gleichen Augenblick einen neuen. Die Sinnstiftung durch Neukontextualisierung lässt in dem Moment der Angst, den die Endlichkeit menschlicher Existenz aufkommen lässt, Hoffnung aufscheinen, dass der Mensch und die menschliche Existenz trotz der Gefahr, die das Nicht-Sein darstellt, in etwas anderem – nach Tillich wäre das zum Beispiel das Sein-Selbst, oder aber in religiöser Rede formuliert: Gott – aufgehoben ist. Die Grenzziehung, die sich im Totengedenken findet – als Gedenken der Lebenden an die Verstorbenen – wird hier also transzendiert, die versprochene Ewigkeit überwindet den Tod. Die Verstorbenen werden als Teil des Kollektivs der Lebenden als zukünftige Gemeinde im Reich Gottes vorgestellt. Die feiernde Gemeinde steht so in Gemeinschaft mit den Verstorbenen, denn die Utopie, die verheißen wird, ist allen gemeinsam verhießen. Die Erzählung des Ewigkeitssonntags verweist auf das Neue Sein des Menschen in der Ewigkeit des Reiches Gottes, es löst den Widerspruch zwischen Sein und Nicht-Sein bei Gott auf. Das existentiale Problem der Sterblichkeit begegnet dem christlichen Gedanken der Ewigkeit.
Die Verbindung von Totensonntag mit dem Ewigkeitssonntag zeigt auf, dass beides notwendig ist, um von Leben und Tod, Tod und Leben zu erzählen und mit der existentiellen Grenze zwischen Leben und Tod umzugehen: Das Erzählen von den Verstorbenen wird nicht einseitig reduziert, weder auf die Abwesenheit der Verstorbenen noch auf die Anwesenheit der Ewigkeit, weder auf ewigen Tod noch auf ewiges Leben. Beide Perspektiven können unterschiedlich akzentuiert werden, je nachdem ob man Totensonntag oder Ewigkeitssonntag feiert, und sind doch aufeinander bezogen: Die Grenze, das Nicht-Sein, die Verneinung des Lebens an Totensonntag ist selbst schon Teil von sinnstiftenden Lebenserzählungen und Teil der Hoffnung, die sich im Ewigkeitssonntag ausdrückt. Diese Integration des Nicht-Seins und der Verneinung, die Sinnstiftung auf der Grenze, ist ein Aspekt, der für die Frage nach Resilienz relevant gemacht werden kann. Gerade dort, wo die existentielle Grenze des Todes bedrückend nahe ist, kann es hilfreich sein, beides im Blick zu behalten: Erzählungen von Hoffnung auf die Ewigkeit und Erzählungen vom Vermissen und Trauer um die Verstorbenen, die Angst vor dem Nicht-Sein und die Hoffnung mit den Nun-Nicht-Mehr-Seienden weiterhin verbunden zu sein.