Eine persönliche Bilanz zu ziehen ist nicht unüblich, insbesondere am absehbaren Ende einer Lebensspanne. Krankenhauseelsorgerinnen und -seelsorger sind darin geübt, auf diese besondere Art von Reflexion eingehen zu können, und auch Ärztinnen und Ärzte wie auch die Pflegekräfte werden immer mal wieder unerwartet als Vertrauenspersonen mit solchen Gedankengängen konfrontiert, wenn sich die Patientinnen und Patienten bei ihnen gut aufgehoben fühlen und jene an ihren Gedanken und persönlichen Fragen teilhaben lassen.
Solche persönlichen Bilanzen haben weit mehr zu bedeuten als eine bloße Form des Bedauerns oder Abwehrens einer negativen Situation, wie sie scheinbar in der Redewendung „hätte, hätte, Fahrradkette“ zur Sprache kommt und einst durch einen Wahlkampfauftritt von Peer Steinbrück popularisiert wurde. Ein angedeuteter Schmerz über verloren gegangene Möglichkeiten muss kein Abwehren einer Trauer über die defizitäre Lebensbilanz ausdrücken, sondern kann auch ein Anvertrauen von etwas individuell ganz Besonderem bedeuten, was sich durch das hoffnungsvolle Mitteilen und die Aussicht auf eine resonante Reaktion – geteiltes Leid ist halbes Leid – zu transformieren vermag.
Bronnie Ware, eine ehemalige Krankenschwester einer Palliativstation in Australien, beobachtete während ihrer Tätigkeit, dass Sterbende häufig die gleichen Dinge bereuen und sich in der Summe auf fünf unerfüllbare Wünsche beschränken würden. Hätten sie in der Vergangenheit doch besser: 1. mehr Mut gehabt, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu leben, 2. weniger gearbeitet, 3. den Mut gehabt, die eigenen Gefühle auszudrücken, 4. den Kontakt zu Freunden aufrechterhalten, und 5. sich selbst die Erlaubnis gegeben, glücklicher zu sein. Doch wie im Hier und Jetzt mit einem „Ich wünschte, ich hätte doch…“ umgehen, ohne das Gefühl der Reue beiseitezuschieben?
Vielleicht mag es eine Lösung sein, diese Situation zu antizipieren, wozu Bronnie Ware anzuregen versucht. Oder eine sog. Löffelliste abzuarbeiten, bevor man den „Löffel abgibt“, was vor dem Lebensende definitiv abgehakt sein sollte, neudeutsch auch „bucket list“ genannt. Die jüdisch-christliche Tradition scheint zunächst in diese Richtung zu gehen, im Sinne des Psalms 90, 12: „Bedenke, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Ein biblisches memento mori, das an die antike Tradition anknüpft und heutzutage in vielen Variationen zur Lebensreflexion einlädt. Jedoch lässt sich hier auch festhalten, dass solcherlei Listen gewisse Grenzen mit sich bringen, nämlich schwer zu überwindende Hindernisse auf dem Weg der Erreichung dieser Lebensziele, und letztlich auch Grenzen der Leistungsfähigkeit dieser Listen für das Glück(en) des eigenen Lebens.
Die Erfahrung von Bronnie Ware zeigt jedenfalls, dass eine aktive Reflexion über sowohl das Erreichte als auch das Unerfüllte im Leben dazu einlädt, sich mit den eigenen Beziehungen zu sich und anderen auseinanderzusetzen und die alte Weisheit, dass Beziehungstun und Beziehungserfahrung ineinander übergehen, immer noch eine aktuelle Bedeutung haben kann.
Hinzu kommt, dass die in TP 8 durchgeführten Gruppendiskussionen mit klinischem Personal darauf hinweisen, dass die soziale Verwobenheit von Patientinnen und Patienten als Ressource von Resilienz nicht nur die professionellen klinischen Kräfte oder die eigenen Angehörigen und Zugehörigen umfasst, sondern auch eine spirituelle und religiöse Dimension mit einschließen kann: Eine Dimension, in der trotz individueller Nöte eine eigene Aufgehobenheit empfunden werden kann, die das Netz erweitert, das einen auffängt – nicht nur am Lebensende, sondern jetzt schon mitten im Leben.