Psalm 38 ist ein alttestamentliches Klagelied des Einzelnen – das bedeutet, hier ist ein*e Ich-Sprecher*in und ein Gott im angeredeten Du, die sich begegnen in einem durchkomponierten und literarisch reflektierten Text, der über 2000 Jahre alt ist, und der voll ist mit Schmerz, Schuld und Gottvertrauen. Wie so viele Bibeltexte erscheint er für den*die heutige*n Leser*in eigentlich ganz weit weg zu sein und im Lesen ist man plötzlich doch wieder ganz nah dran. Was das Nachdenken und Reden über Schmerz mit Resilienz zu tun hat, soll hier exemplarisch anhand eines Ausschnitts aus der Klage (Ps 38, 5-7) gezeigt werden.
V. 5: „Ja, meine Vergehen sind mir über den Kopf gewachsen,
wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer.“
Die Metaphern des Gewichts durchziehen die Logik des Schmerzes und der Schuld. Im Hebräischen ebenso wie im Deutschen. Schmerzen sind wie eine Last, eine Belastung – im Gegensatz zur Erleichterung bei Schmerzlinderung. Ebenso kann auch das Gewissen und das Selbstbild belastet oder beladen sein. Die Schuld wiegt schwer. Die Sorgen sitzen im Nacken. Das Leben ist aus dem Gleichgewicht geraten.
Zu den in Psalm 38 behandelten Belastungen gehört u.a. das Nachdenken über die eigene Schuld. Der*die Betende möchte die Verantwortung für seine Taten und seine Situation übernehmen, sie sozusagen tragen. Dieses scheinbar vernünftige Vorhaben ist jedoch bei unerträglichen Schmerzen hochgradig ambivalent, wenn nicht sogar verhängnisvoll. Denn durch die eigene Schuldzuschreibung hat der*die Leidende zwar eine Erklärung für sein Leid, aber auf den zweiten Blick wendet sich diese scheinbar entlastende Erklärbarkeit hin zu einer zusätzlichen Belastung, denn die Konsequenzen des eigenen Handelns sind zu schwer geworden, um sie aus eigener Kraft tragen zu können. Aus der Deutungskontrolle wird ein Kontrollverlust über Leben und Leiden. Sind die Schmerzen so groß/schwerwiegend, dass sie nicht auszuhalten sind, dann ist das Leben bedroht.
6: „Es stinken, eitern meine Wunden
wegen meiner Torheit.“
Der Blick wird nun auf das äußere Erscheinungsbild, auf die körperliche Gesundheit gelenkt, die durch eine Krankheit stark angegriffen zu sein scheint. Es geht allerdings weniger darum, medizinische Symptome eindeutig darzustellen, sodass eine Diagnose gestellt werden könnte. Wenn der Körper beschädigt ist, dann funktionieren neben biologischen oder anatomischen Lebensfunktionen auch mentale und soziale Interaktionsformen nicht mehr wie gewohnt. Daher steht bei der Beschreibung einer körperlichen Krankheit mehr auf dem Spiel als die körperliche Gesundheit.
Wer die Worte von V. 6 liest/hört, sieht in seiner Vorstellung nicht nur eine an einer Krankheit leidende Person und ihren verwundeten Körper, sondern wird auch dazu angehalten, sich den Geruch oder vielmehr den Gestank des Eiters vorzustellen. Vielleicht kribbelt es sogar auf der eigenen Haut, wenn man sich derartige Wunden vorstellt. Ob man es will oder nicht, diese Wahrnehmungen stellen sich unmittelbar ein und lösen sofort Gefühle aus: Ekel, Mitleid, Trauer, vielleicht sogar Angst. Die Notbeschreibung ist sehr wirkungsvoll, denn die Schmerzerfahrung wird über das Hervorrufen von Emotionen und Stimmungen „spürbar“.
7: „Ich bin gekrümmt, sehr tief gebeugt,
den ganzen Tag gehe ich niedergedrückt einher.“
War im vorherigen Satz der in Mitleidenschaft gezogene Körper beschrieben worden, so geht es nun um die psychischen Auswirkungen der vielfältigen Belastungen, die sich jedoch wiederum am Körper manifestieren. Der*die Betende ist nicht nur durch die Schmerzen belastet, sondern auch niedergeschlagen, schwermütig. Die Schmerzen greifen die Psyche ebenso an wie das Schuldbewusstsein. Hierbei kann aber weniger von einem Nacheinander, eher muss von einem Ineinander der einzelnen Elemente des Menschseins ausgegangen werden. Damit ist der Körper nicht nur das an einer Krankheit leidende Objekt, sondern als Ausdrucksmittel der Befindlichkeit des Menschen insgesamt ist er auch aktives Subjekt im Leidensgeschehen. Der hier geschilderte Ausdruck ist eine Krümmung und Abwärtsbewegung des Körpers. Kraftlosigkeit und gleichzeitige Rastlosigkeit offenbaren sofort einen qualvollen Zustand.
Die Schmerzbeschreibungen und -äußerungen gehen in den folgenden Versen weiter. Brennender Schmerz, ungesundes „Fleisch“, Zerschlagenheit und Schmerzensschreie sind nur der Anfang. Hinzu kommen soziale Vereinsamung und Verspottung. Freunde und Verwandte werden zu Feinden, obwohl gerade von ihnen Solidarität und Fürsorge zu erwarten wäre. Der Schmerz hat nun viele Gesichter angenommen und durchzieht alle lebensnotwendigen Bereiche des Menschen, die psychische und physische Gesundheit sowie das soziale Miteinander und Füreinander. Die Bereiche lassen sich aber nicht isolieren, sondern sind vielseitig aufeinander bezogen und wechselwirken miteinander. Die Schmerzsituation ist komplex und der*die Betende fängt diese Komplexität zu großen Teilen durch die geschilderte Perspektivenvielfalt auf die Notsituation ein.
Anschließend schildert das betende Ich seine Reaktion auf die Gesamtsituation: Es zieht sich in sich selbst zurück, verschließt die Ohren und den Mund. Das Schweigen wirkt wie ein „Still“-Stand, aber hier endet der Psalm nicht. Nun folgen Bitten an Gott, Hoffnung und Vertrauensbekundung. Die eigene Ohnmacht läuft nicht ins Leere, sondern wird zum argumentativen Werkzeug. Sie bezeugt die Angewiesenheit des*der Leidenden auf Gott und soll gleichzeitig sein rettendes Eingreifen motivieren.
Aber der Clou liegt darin, dass die Ohnmacht nicht erst im Ansprechen der Hoffnung auf Gott, sondern bereits in der Artikulation des Schmerzes durchbrochen wird. Handlungsermächtigung ist ein mehrstufiger Prozess und Psalm 38 stellt Schmerzver- oder -bearbeitung als einen solchen Prozess dar, der bereits mit dem Redenkönnen beginnt. Über Schmerz reden zu können, klingt zunächst banal für das Ziel der Schmerzverarbeitung. Anhand von Psalm 38 zeigt sich jedoch, welche sprachliche, selbstreflexive, gefühlvolle, kreative Leistung dahintersteckt, über schmerzhafte Erfahrungen zu sprechen, die zu einem Erstarren, zu Taubheit und Stummheit, zu Sprachlosigkeit, eben zu Ohnmachtserfahrungen führen können. Artikulation und Abstraktion schaffen zunächst mit Judith Gärtners Worten eine „deutende Distanz“ zu solchen Ohnmachtserfahrungen. Nun kann der Prozess losgehen, von dem wir in unserer Forschungsgruppe sprechen, der das Aushalten von Angst und Schmerz sowie das Gestalten von Zukunft und Hoffnung beinhaltet. Resilienz zeigt sich eben nicht nur am Ergebnis oder am Ziel, sondern schon beim ersten Schritt, beim Aufstehen und Losgehen. Redenkönnen ist wie Losgehen. Aber diese Wegmetaphorik reicht nicht aus, um das Resilienzpotential von Psalm 38 sichtbar zu machen. Der*die an den Schmerzen Leidende lässt im Losgehen den Schmerz nicht einfach hinter sich, sondern setzt sich ihm aus und nimmt ihn sozusagen mit. Vielleicht hilft auch hier die Gewichtmetaphorik, um das Moment von Aushalten und Gestalten deutlich zu machen. Redenkönnen macht die Last nicht leichter, die Schwere des Schmerzes nicht geringer, aber eventuell ein wenig „tragbarer“. Worte und Ausdruck für den Schmerz zu finden (oder sich von einem Psalm zu leihen), können auf gewisse Weise Ordnung und das Gefühl von Kontrolle vermitteln, können eine Art Tragehilfe für die Last sein. Redenkönnen ist wie ein Rucksack – die Last wird nicht abgeworfen, sondern ausgehalten und gleichzeitig gestaltbar.
Dieser Artikel thematisiert und vertieft einen Aspekt aus: Gärtner, Judith: „Und mein Schmerz steht mir immer vor Augen (Ps 38,18).“ Schmerz als Ausdrucksform der Klage, in: Bauks, M./Olyan, S. (Hg.): Pain in Biblical Texts and Other Materials of the Ancient Mediterranean (FAT II 130), Tübingen 2021, 85-104.